4. Temporale Funktionen der Aspekte

Temporale Funktionen eines Aspekts entstehen, wie die modalen, s.u. 5., zusätzlich zu den oder anstelle der aktionalen Funktionen (Situationstyp, aktionale Gestalt, Häufigkeit), die Episodizität bleibt erhalten. Es sind deswegen Funktionen des Aspekts, weil die Veränderung oder Weglassung der gegebenen Aspektform zur Veränderung der temporalen Bedeutung der Wortform, des Satzes oder des Textes führt. Die Veränderung z.B. einer ipf. Präsensform, zakryvaju, zu einer pf. Präsensform, zakroju, ändert die Default-Funktion von ‚Gegenwart’ zu ‚Zukunft’.

Wir gehen hier davon aus, dass die so zustande kommenden Funktionen Bestandteil der formal-funktionaen Tempustheorie sind, dass der Aspekt hier also die Rolle eines (wortforminternen) Kontextes spielt, der zu entsprechenden Tempusfunktionen führt. Hier werden somit nur temporale Funktionen erwähnt, die in Interaktion mit dem Aspekt stehen.

4.1. Tempusfunktionen

Als Tempusfunktionen werden angesetzt:

– deiktische: ‚Gegenwart’, ‚Vorgegenwart’, ‚Zukunft’, ‚Vorzukunft’

– narrative: ‚Vergangenheit’, Vorvergangenheit’, ‚narrative Zukunft’

– die omnitemporale Tempusfunktion.

4.2. Deiktische Funktionen und narratives Präsens

Im narrativen Kontext ergibt sich bei der Präsensform das Historische Präsens, vgl.:

byvalo, ona zakryvaet dver’ i uchodit;

ona zakryla dver’ i uchodit;

byvalo, ona zakroet dver’ i uchodit

 

Input

 

Morphol.

Output

tempusrelevanter Kontext

 

syntaktischer Output (Satzfunktion und temporale Funktionen)

 

ipf. 

+

Präsens

 

 

 

‚ipf.‘ + ‚Gegenwart’

(Default)

ohne spezifischen Kontext

 

 

alle Satzfunktionen des ipf. Aspekts +

‚Gegenwart‘ (Default)

+ narrativer Kontext

alle Satzfunktionen des ipf. Aspekts +

‚Vergangenheit oder Gegenwar‘ (Narratives Präsens)

 

pf.

+

Präsens

 

 

 

 

‚pf.‘ +

‚Zukunft’ (Default)

ohne spezifischen Kontext

 

 

alle Satzfunktionen des pf. Aspekts

+ ‚Zukunft‘ (Default)

+ narrativer Kontext

‚nichtepisodisches Ereignis’ (exemplarische Satzfunktion) + ‚Vergangenheit‘  (Historisches Präsens)

 

ipf.

+

Futur

 

 

 

‚ipf.‘ + ‚Zukunft’ (Default)

 

Standardkontexte der Satzfunktionen

 

 

iterative, stative und allgemeinfaktische Satzfunktion des ipf. Aspekts (Defaults; progressive Satzfunktion sowie allgemeinfaktische Satzfunktion bei Ereignislexemen sind extrem selten) + ‚Zukunft‘

Morphologische und syntaktische temporale Funktionen der Aspekte

 

‚ipf‘ = morphologische Funktion des ipf. Aspekts = LAF

‚pf‘ = morphologische Funktion des ipf. Aspekts = ‚episodisches Ereignis’

4.3. Taxische  Tempusfunktionen

Wenn verbale Prädikate zeitlich aufeinander bezogen sind, gelten per Default die taxischen Funktionen ‚Sequenz‘, ‚Inzidenz’ und ‚Parallelismus’. Die jeweilige zeitliche Beziehung zwischen den Prädikaten kann explizit (mit kogda, v to vremja kak  usw.) und / oder implizit (auf die Wortform des Verbs beschränkt) sein.

Sequenz: Kogda on zakryl dver’, ona zakryla okno.

Inzidenz: Kogda on zakryval dver’, ona zakryla okno.

Parallelismus:  Kogda on zakryval dver’, ona zakryvala okno.

 

Wenn die Beziehung zwischen zwei verbalen Prädikaten expliziten (esli u.a.) oder impliziten nichtepisodischen konditionalen Charakter hat, ist der pf. Aspekt der Default, möglich sind aber auch ipf. Verben.

Esli zakroetsja (zakryvaetsja) takaja dver’, to slučitsja (slučaetsja) sledujuščee: ...

 

Input

 

Output

pf. Prädikat + pf. Prädikat

pf. Prädikat + ipf. Prädikat

ipf. Prädikat + ipf. Prädikat

narrativer Kontext

 

Default

Sequenz

Inzidenz

Parallelismus

pf.(ipf.) + pf. (ipf.)

 

konditionaler nichtepisodischer Kontext

Wenn-dann-Relation (ungleichzeitig)

Taxische (= textuelle temporale) Funktionen der Aspekte

 

Vorvergangenheit und narrative Zukunft sind im Wesentlichen kontextuell bedingt.

Weiteres zu den temporalen Funktionen s. „Tempustheorie“:

http://web.me.com/vl_hh/Website/Tempustheorie.html

5. Modale Funktionen der Aspekte

Auch die modalen Funktionen des Aspekts sind dessen Funktionen, weil die Veränderung oder Weglassung der gegebenen Aspektform zur Veränderung der modalen Bedeutung der Wortform oder des Satzes führt.

5.1. Formen

Die Funktionsregeln gelten für folgende Ausdrucksmittel der Modalität:

Aspekt + ...

1. + Imperativ                                         Öffne die Tür!

2. + Modalauxiliar + Inf.                    Er kann die Tür öffnen.

3. + absoluten Inf.                                 Die Tür öffnen!

4. + Konditional                      Würde doch die Tür geöffnet! Ich würde die Tür öffnen.

5. + Konditional + absol. Inf.           Wäre die Tür doch zu öffnen.

6. + Indikativ                                           Du öffnest jetzt die Tür!

5.2. Funktionen

Folgende Modalitätskategorien werden unterschieden (mit ihren zentralen Funktionen; s. Hansen 2001: 79ff zu den Begriffen «Ebenen» und «Fokalbegriffe»).

 

1. Dynamische Modalität

1.1. 'Fähigkeit'                                                                er kann Türen öffnen

1.2. 'Objektive Möglichkeit'                          die Tür kann geöffnet werden

1.3. 'Objektive Notwendigkeit'                                die Tür muss geöffnet werden

2. Deontische Modalität

2.1. 'Erlaubnis'                                                                er darf die Tür öffnen

2.2. 'Verpflichtung'                                                      er muss die Tür öffnen

2.3. 'Schwache Verpflichtung'                                 er sollte (möglichst) die Tür öffnen

3. Epistemische Modalität

3.1. 'Mittlere Wahrscheinlichkeit'            er kann die Tür geöffnet haben

3.2. 'Hohe Wahrscheinlichkeit'                               er muss die Tür geöffnet haben

(4. Volitive Modalität)                                    er will die Tür öffnen

 

Die meisten der oben genannten Formen bedienen mehr oder weniger ausschließlich die deontische Modalität (Äußerungen mit direktiver / imperativischer Funktion). Die Modalauxiliare bedienen jedoch auch, wiederum in verschiedener Stärke, die beiden anderen Modalitäten.

5.3. Funktionsregeln für dynamische und epistemische Kontexte

Bei dynamischer und epistemischer Funktion ohne ne gelten per Default folgende (grundlegende) syntaktische aktionale Funktionen: für pf. Verben die konkret-faktische Satzfunktion und für den ipf. Aspekt die iterative und stative Satzfunktion. In modalen Kontexten kann die pf. Präsensform eine nichtepisodische Fähigkeit bzw. Möglichkeit ausdrücken:

ona tebe zakroet ljubuju dver’

 

Input

 

Output

Aspekt

Umgebung

pf.

 

ohne spezifischen Kontext

konkretfaktische Satzfunktion (Default)

+ Präsens + nichtepisodischer

Kontext

‚nichtepisodische  Möglichkeit

(Fähigkeit)’ exemplarische Satzfunktion

ipf.

+ nichtepisodische Disposition im Kontext  (‚umeet’ ...)

Fähigkeit, Recht, Pflicht u.a.

iterativer Kontext

iterative Satzfunktion

stative LAF

stative Satzfunktion

Aspektfunktionen in dynamischer und epistemischer Umgebung

5.4. Funktionsregeln für deontische Kontexte

Bei der deontischen Modalität (d.h. Äußerungen mit direktivem Sprechakt, imperativischen Funktionen) spielen neben syntaktischen Aspektfunktionen wie ‚iterativ’ eine wichtige Rolle

(a) die Nach-/Gleichzeitigkeit der Handlung zur Sprechzeit und

(b) die modale Definitheit.

 

Beispiele:

         Nachzeitigkeit: nado zakryt’ dver’, zakrojte dver’ ‚schließen Sie die Tür’;

          Gleichzeitigkeit: sidite!  ‚Bleiben Sie sitzen!’

          Definite Modalität (= ‚mit Agenseinstellung):možno zakryvat dverdu darfst die Tür ruhig öffnen‘;

          Nicht definite Modalität (‚ohne Agenseinstellung‘):zakrojte, požalujsta, dverwenn Sie bitte die Tür schließen würden

 

Definite Modalität liegt vor bei Verwendungen mit deontischem Kontext, in denen der Agens, also die handelnde und meist zugleich die angesprochene Person, auf die Handlung eingestellt  ist. In solchen Sätzen wird per Default der ipf. Aspekt verwendet, aber eben nur wenn der Sprecher auf die Einstellung des Agens bezüglich der bezeichneten Handlung ausdrücklich Bezug nehmen will oder diese Einstellung ausdrücklich unterstellt. Hier gilt, dass “der Sprecher die prospektive Haltung des Agens präsupponiert” (Lehmann 1989: 79). Bei der Verwendung des pf. Aspekts mit Imperativ oder Modalauxiliar kommt diese Präsupposition nicht zum Ausdruck. Diese Präsupposition kann in Äußerungen mit einer Reihe verschiedener Illokutionen vorkommen, vor allem mit:

 

     • dem Ermuntern, Рассказывай, почемутызамолчал? ‘Erzähl doch (weiter), warum schweigst du!’; Говори! ‘Sprich!’,

     • dem Drängen, Входите! ‘Steigen Sie schon ein!’; Отвечайте! ‘Antworten Sie doch!’,

     • dem Einladen, Проходите! ‘Kommen Sie doch herein!’ Раздевайтесь! ‘Legen Sie doch bitte ab’, Приезжайте! ‘Kommen Sie doch mal vorbei’,

     dem Zustimmen, (– Игратьчтоли?)Играйкакую-нибудьпоновей!‘Spiel ruhig eine neue!’,

          dem Erinnern, Ходите! ‘Sie sind am Zug! (beim Schach)’,

     • dem Starten, – Кончиличитать? – Пишите! ‘Habt ihr zuende gelesen? Dann schreibt jetzt!’,

     dem Präzisieren, Ну, приходитедотемноты!‘Kommt vor der Dämmerung zurück!’,

     demVerbieten, Неоткрывайтеокно!‘Öffnen Sie nicht das Fenster!’,

     • dem Bitten, etwas nicht zu tun, Пожалуйста, неоткрывайтеокно! ‘Öffnen Sie bitte das Fenster nicht!’,

     • dem Ermahnen, zu dem der Sprecher Anlass hat, Неопаздывайтезавтра! ‘Kommen Sie morgen nicht zu spät!’,

     • dem Missbilligen, Неговоритетак! ‘Sagen Sie so etwas nicht!’.

 

Bei den verneinten Äußerungen mit deontischer Modalität (bei direktiven, imperativischen Äußerungen) wird fast immer der ipf. Aspekt verwendet. Denn mit dem Verbot oder der Missbilligung, der Bitte bzw. Ermahnung, etwas nicht zu tun, wird präsupponiert oder unterstellt, dass der Agens auf die Handlung eingestellt ist.

Der pf. Aspekt ist bei deontischer Modalität der Default (Откройте, пожалуйста, окно! ‘Öffnen Sie bitte das Fenster!’). Er erscheint als Befehl oder Vorschlag (Откройтеокно! ‘Öffnen Sie (doch) das Fenster!), als Ratschlag (Плащнадень! ‘Ziehe den Regenmantel an!’). Mit Negation erscheint er meist als Warnung (Неупади! Наулицескользко! ‘Pass auf! Die Straße ist glatt.’), einem Sprechakt, der eine prospektive Voreinstellung des Agens auf die Handlung ausschließt.

Zwischen Gleichzeitigkeit und definiter Modalität besteht ein enger Zusammenhang, da man davon ausgehen kann, dass derjenige der etwas gerade tut, auch darauf eingestellt ist. Die definite Modalität fordert jedoch auch bei Nachzeitigkeit in der Regel den ipf. Aspekt. Sie ist also eine eigenständige Funktion (aber offenbar von der Kombination ‚Gleichzeitigkeit + definite Modalität’ des ipf. Aspekts motiviert). Diese Kombination motiviert auch die Funktion ‚Aufforderung zur unmittelbaren Realisierung’ wie z.B. in vremja idti ‚es ist Zeit zu gehen’.

 

pf.

-ne

 

 

 

 

nachzeitige indefinite Modalität

-ne

Erlaubnis

+ne

Warnung

ipf .

-ne

‚gleichzeitig’ und / oder definite Modalität

±ne

‚unmittelbare Realisierung’

+ne

definite Modalität und / oder Verbot u.ä

Aspektfunktionen bei deontischer Modalität

 

[Zu den Aspektfunktionen in modalen Kontexten s. Lehmann 1989 und 2008.]