3. Die Funktionen und ihre Veränderung durch Affigierung und Kontext

3.0.Dieses Kapitel behandelt die funktionalen Veränderungen, die sich durch die Kombination lexikalischer Stämme mit lexikalischen oder grammatischen Affixen und mit bestimmten syntaktischen Kontexten ergeben. Die Veränderungen des Formats lexikalischer Stamm zum Format grammatischer Stamm oder Wortform impliziert den Wechsel von der lexikalischen zur morphologischen Beschreibungsebene, und die des Formats Wortform zum Format Wortform mit syntaktischem Kontext impliziert den Wechsel von der morphologischen zur syntaktischen Beschreibungsebene.

Wir unterscheiden lexikalische und grammatische Veränderungen. Als lexikalisch sehen wir solche Veränderungen an, die einzelne Verben oder auch Gruppen von Verben betreffen, als grammatisch solche, die im Prinzip für alle Verben gelten, soweit sie semantisch dafür geeignet sind. Nicht geeignet sind z.B. stative Verben wie znacit’ ‚bedeuten‘ für die Affigierung mit einem delimitativen po- ‚eine zeitlang (etwas tun)‘.

Die lexikalische Veränderung durch Affigierung oder Kontext kann eine neue lexikalische Bedeutung (und damit eine neue LAF) generieren. Diese Änderungen können mit einer Aspektänderung einhergehen oder auch nicht, und wenn sie konventionalisiert sind, entsprechen den neuen Bedeutungen alternative Einträge in den Wörterbüchern (s. 3.1.).

Auch eine grammatische Veränderung durch Affigierung oder Kontext kann, muss aber nicht mit einer Aspektänderung einhergehen (s. 3.2.). Ohne Aspektänderung wird z.B. mit der progressiven Funktion die aktionale Gestalt einer ipf. Wortform wie zakryvat’ ‚schließen‘ verändert, vgl. die Änderung von der Ereignis- zur Verlaufsfunktion bei v to vremja, kak ona zakryvala okno ‚während sie das Fenster schloss’, denn das ipf. Verb zakryvat’ ‚schließen‘ hat als Wortform ohne Kontext keine Verlaufsfunktion (3.2.1.2).

 [Umfassend zur Vererbung und Veränderung von Gestalt- und telischen Funktionen: Anstatt 2003a; Beschreibung unter Verwendung Funktionaler Operationen: Lehmann 2005a.]

3.1. Lexikalische Veränderungen der LAF

3.1.1. Lexikalische Derivation von Ereignis-Lexemen

Die Derivation von Ereignis-Verben ist die häufigste lexikalische Veränderung der Gestalt, die Mehrheit der pf. Verben bilden lexikalische Derivate. Die abgeleiteten Lexeme haben mit minimalen Ausnahmen die Funktion ‚telisches Ereignis‘. Beispiele:

Diffuse Verben (ipf.) > Ereignis-Lexeme (pf. – ipf.): pisat’ ‚schreiben’ > spisat’ – spisyvat’ ‚abschreiben’, idti ‚gehen, kommen’ > perejti – perechodit’ ‚hinüber-/herübergehen’, idti > sojti – schodit’ ‚hinabgehen, herabkommen’.

Verlaufsverben > Ereignis-Lexeme: plakat’ ‚weinen’ > vyplakat vyplakivat (sebe proščenie) ‘für sich Vergebung herausweinen’, sidet’ ‘sitzen’ > usidet’ ‘ruhig sitzen bleiben’.

Stative Verben > Ereignis-Lexeme: znat’ ‚wissen, kennen’ > priznat’priznavat’ ‚anerkennen’, značit > oboznačit oboznačat‘kennzeichnen’.

Ereignis-Verben > Ereignis-Lexeme: rešit’ ‚entscheiden’ > pererešit’pererešat’’ ‚umentscheiden’.

3.1.2. Kontextuelle Veränderung der Verlaufslexeme

Verlaufsverben können per Polysemierung stative Funktion erhalten, in der Regel sind es Positionsverben mit unbelebtem Agens:

V Rossii stojat pamjatniki Puškinu.

Hier handelt es sich jeweils um verschiedene Lexeme. In der Gedichtzeile von Ekaterina Antoščenko (Internetseite «Stichi ru» am 4.3.09)

яночьюплакаладокрови‘nachts weinte ich bis auf’s Blut’

ist das atelische Verlaufsverb plakat’ okkasionell telisch verwendet[1].

3.1.4. Kontextuelle Veränderung der Ereignis-Lexeme

Zu vielen Ereignis-Lexemen, besonders zu konklusiven Lexemen (s. 2.2.1.2.), werden durch Polysemierung stative Lexeme abgeleitet:

Čto govorit zakon? ‚Was sagt das Gesetz?‘

Teorija obeščaet radikalnoe izmenenie. ‘Die Theorie verspricht eine radikale Veränderung.’

Gora zakryvala ozero. ‘Der Berg verdeckte den See.'

V ego monografii zadača rešaetsja tak: ... 'In seiner Monographie wird die Aufgabe wie folgt gelöst: ...

Veränderungen dieser Art können auch okkasionell auftreten.

3.2. Grammatische Veränderungen der LAF 

Alle ipf. Verben (ohne Satzkontext) übernehmen in die Wortform die Gestaltfunktion des Lexems, d.h. die Verlaufs-, die stative, die diffuse oder die Ereignis-Funktion. Diese morphologischen, mit dem lexikalischen Stamm übernommenen (ererbten) Gestaltfunktionen der ipf. Verben können durch syntaktischen Kontext geändert werden.

Dies gilt für die Gestaltfunktion der pf. Verben nicht: Alle pf. Verben haben Ereignis-Funktion (außer wenn sie als Resultativa auftreten), d.h., dass sie diese Funktion des Ereignis-Lexems beibehalten (bei den Ereignis-Lexemen) oder dass sie die Funktion durch Affigierung erhalten (bei den anderen Lexemen).

Die Veränderungen durch grammatische Derivation und Kontext gehen sehr oft mit anderen Funktionsveränderungen einher, insbesondere hinsichtlich der Episodizität, s. 3.3., und der Modalität, s. 5. Die Funktionsveränderungen können sich auch auf die letzgenannten Funktionen beschränken. Dies gilt vor allem für die Derivation von ipf. Aspektpartnern bei Ereignis-Lexemen, s. zakryt’pf > zakryvat’ipf.

3.2.1. Ereignis-Lexeme

Beispiel: zakryt’pf > zakryvat’ ipf.

Typischerweise wird das Imperfektivum durch Suffigierung abgeleitet.  Ausnahmen von dieser Markierungsregel gibt es vor allem bei Sprechakt-Verben, z.B. blagodaritipf > poblagodarit’pf. ‚danken‘ (3.2.7.)

3.2.1.1. LAF > morphologische Aspektfunktion

LAF: ‚telisches Ereignis‘.

Die pf. und ipf. Verben bleibt die Funktion ‚telisches Ereignis‘ erhalten.

3.2.1.2. Morphologische Aspektfunktion > Satzfunktion

Pf. Verben: ‚Ereignis’ bei konkret-faktischer Funktion, ona zakryla okno.

ipf. Verben:

(a) ‚telisches Ereignis’  bleibt erhalten

– bei iterativer Funktion, po večеram ona  zakryvala okno und

– bei allgemeinfaktischer Funktion, ja uže zakryval eto okno

(b) ‚telisches Ereignis’  > ‚telischer Verlauf’ bei der progressiven Funktion (in der syntaktisch terminativen Variante): smotri, ona  zakryvaet okno; v to vremja, kak ona rešala zadaču;

Die ipf. Verben in dieser Funktion (pf. Verben können sie nicht haben) bezeichnen einen Verlauf mit möglichem Grenz-Ereignis (hier: es ist möglich bzw. wahrsceinlich, dass das Fenster ist nach dem Vorgang zu ist): v to vremja, kak ona zakryvala okno, ... ‘während sie das Fenster schloss, ...’. Im Unterschied zu Verlaufslexemen, bei denen ein solches Grenz-Ereignis fehlt: V to vremja, kak ona plakala, ... ‘während sie weinte, ...’

3.2.2. Verlaufslexeme

Beispiel:  plakat’ipf > poplakat’pf, zaplakat’pf

Das ipf. atelische Verb ist fast immer formal unmarkiert, das  pf. atelische Derivat präfigiert. Die Derivate mit po- sind Delimitativa mit der Funktion ‚eine zeitlang’, die mit za- u.a. Präfixen sind Ingressiva mit der Funktion ‚anfangen zu ...’. (Die früher von mir hier einbezogenen Derivate mit ot- in der reinen Funktion ‚aufhören zu ...’ sind als Typen und Vorkommen so selten, dass sie ignoriert werden können).

In der strukturalistischen Aspektologie werden diese Imperfektiva als unpaarig angesehen und die Derivate als – ebenfalls unpaarige – Aktionsartverben, zaplakat’ mit ingrssiver und poplakat’ mit delimitativer Aktionsart [zur Frage der  Partnerstatus dieser Verben s. Lehmann 1988c]. Das Präfix po- von Verlaufslexemen hat zumindest heute jedoch nur selten die Funktion ‚kurze Zeit’, sondern ‚eine zeitlang’, in den Wörterbüchern: ‚nekotoroe vremja‘  [s. hierzu Brüggemann 2008, 2003].

3.2.2.1. LAF > morphologische Aspektfunktion

LAF: ‚atelischer Verlauf‘.

Die ipf. Verben haben die Funktion ‚atelischer Verlauf‘, die pf. Verben die Funktion ‚atelisches Ereignis’. Von bekannten Aspektologen wie Bondarko oder Barentsen werden diese Perfektiva als telisch angesehen (als predel’nyj glagol, weil sie alle Perfektiva als telisch betrachten). Die bezeichnete Situation verfügt jedoch nicht über eine innere, sachverhaltsimmanente Grenze (predel). Die Grenzen (Anfang und Ende bzw. Anfang) sind vielmehr grammatisch generiert und rein zeitlich; sie werden oft als äußere Grenzen / Limitierung bezeichnet.

3.2.2.2. Morphologische Aspektfunktion > Satzfunktion

Die ipf. Verben behalten die Funktion ‚atelischer Verlauf‘ in den aspektuellen Satzfunktionen,

– bei iterativer Funktion, po večеram ona plakala, guljala 

– bei allgemeinfaktischer Funktion, ja uže plakala, guljala tam

– bei progressiver Funktion, smotri, ona plačet; v to vremja, kak ona sidela ...;

3.2.3. Diffuse Lexeme

Beispiel:  čitat > pročitat, počitat

Die ipf. diffusen Verben sind formal unmarkiert, die pf. Derivate jeweils formal markiert durch Präfix, wobei verschiedene Präfixe verwendet werden, z.T. in Abhängigkeit von der Lexemklasse und auch von der Varietät [s. Anstatt 2003a: Kap. 5.1.]

3.2.3.1. LAF > morphologische Aspektfunktion

LAF: (bezüglich Gestalt und Telizität) ‚diffuse Situation‘.

Die ipf. Verben haben die Funktion ‚diffuse Situation‘, die pf. Verben die Funktion ‚telisches Ereignis’ (pročitat) oder ‚atelisches Ereignis’ (počitat). Manchmal auch die Funktion ‚diffuse Situation’ [umfassend über das grammatische Verhalten diffuser Lexeme: Anstatt 2003a, besonders Kap. 5.1].

3.2.3.2. Morphologische Aspektfunktion > Satzfunktion

Beim diffusen Situationstyp kann die aktionale Situation durch Affigierung und / oder Kontext zu einem Ereignis oder einen Verlauf konturiert werden. Der Kontext besteht meist aus bestimmten Argumenten. Durch homogenen Kontext wird die Situation selbst homogen und damit auch atelisch, durch heterogenen Kontext wird die Situation heterogen und telisch. Homogen ist ein Sachverhalt dann, wenn seine Teile der selben Kategorie angehören, wie der ganze Sachverhalt, so dass das Hinzufügen oder Entfernen von Teilen an der kategorialen Zugehörigkeit der Situation nichts ändert. Für heterogene Sachverhalte gilt das nicht.

Beispiele: Das Lesen von Versen bleibt trotz eines Hinzufügens oder Entfernens von Versen weiterhin das Lesen von Versen. Aber das Lesen eines (bestimmten) Verses ist beim Hinzufügen eines weiteren Verses oder beim Entfernen eines Teils des Verses nicht mehr das Lesen eines (dieses) Verses. Die Heterogenität dieses Sachverhalts ist äquivalent mit dem Vorhandensein einer inneren Grenze, jeder Vers besitzt seiner Natur nach eine Grenze, ist er gelesen, dann kann er nicht weiter gelesen werden. Während Homogenität und innere Grenze beim diffusen Lexem erst durch Kontext manifest werden, sind sie bei den Verben sitzen und setzen bereits mit der lexikalischen Bedeutung des Verbs gegeben. Durch Verlängern des Sitzens bleibt die Situation doch weiterhin ein Sitzen, während beim Verlängern oder Verkürzen des Setzens der Sachverhalt Setzen nicht mehr gegeben ist.

Wenn diffuse Lexeme durch Kontext und Affigierung zu Verben mit telischer bzw. atelischer Funktion verändert werden, sprechen wir von Konturierung. Die Perfektivierung eines  diffusen Lexems involviert meist die Konturierung seiner diffusen Funktion, es gibt jedoch Fälle, in denen auch pf. Derivate noch diffuse Bedeutung haben. Das gilt vor allem für Graduativa (s. 2.2.2.1.), Anstatt (2003a) hat es auch für andere Lexeme nachgewiesen. Die ipf. Verben können ohnehin bei entsprechendem Kontext diffus bleiben.

Die Konturierung durch Satzkontext erfolgt in aller Regel durch Argumente (meist das zweite, für ein logisches Objekt), sie erfolgt aber im Russischen oft auch nur indirekt, weil es, anders als das Deutsche, nicht über einen grammatikalisierten Artikel verfügt; vgl. im Beispiel oben das spezifische einen Vers gegenüber dem indefiniten Verse. Das ipf. Verb wird nur kontextuell konturiert, das pf. gleichzeitig durch ein Präfix.

Alle drei Varianten (diffus, telisch konturiert, atelisch konturiert) können wie inhärent telische oder inhärent atelische Verben (s. 3.2.1.-2.) in den Satzfunktionen des ipf. Aspekts (iterativ, allgemein-faktisch, progressiv) und des pf. Aspekts (konkret-faktisch) verwendet werden. Vgl.:

a) Konturierung zur telischen Funktion:

     – bei allgemeinfaktischer Funktion: on čital lozung

     – bei iterativer Funktion: na progulkach on čital lozung

     – bei progressiver Funktion: v to vremja, kak on čital lozung

Hier kann davon ausgegangen werden, dass in der Standardlesart das Lesen der ganzen Parole verstanden wird und dass damit eine innere Grenze  gegeben ist (daher telisch).

b) Konturierung zur atelischen Funktion:

     – bei allgemeinfaktischer Funktion: ja ne čital stichov

     – bei iterativer Funktion: na progulkach on ne čital stichov

       bei progressiver Funktion: v to vremja, kak on čital stichi

Hier kann von dem Verständnis ausgegangen werden, dass eine offene Menge von Versen gelesen wird und dass damit keine innere Grenze gegeben ist (daher atelisch).

c) Keine Konturierung der Diffusität im Satz:

     – bei allgemeinfaktischer Funktion: on čital gazetu

     – bei iterativer Funktion: po večeram on čital gazetu

     – bei progressiver Funktion: v to vremja, kak on čital gazetu

Hier bleibt offen, ob die Zeitung ganz oder Teile daraus gelesen wurden, so dass damit weder das Erreichen der inneren Grenze oder die Möglichkeit dazu verstanden wird, noch dass dies auszuschließen ist (daher telisch und/oder atelisch).

d) Konkret-faktische Satzfunktion des pf. Aspekts:

     – telisches Ereignis: on pročital lozung / lozungi /  stichi ‚er hat die Losung / die Losungen / die Verse gelesen‘.

     – atelisches Ereignis: ja ne počital stichov / lozungov ‚er hat keine Verse, Parolen gelesen‘.

3.2.4. Stative Lexeme  

Beispiel: značit‚bedeuten‘

Die stativen Lexeme sind ipf., haben keinen morphologischen Aspektpartner und behalten ihr LAF-Funktion ‚stative Situation‘ in Wortformen und Sätzen. [Zu Sonderfällen s. Lehmann 2001a.]

3.2.5. Resultativität

Resultativität ist eine Eigenschaft der lexikalischen Bedeutung und syntaktischer Kontexte. Syntaktische Resultativität (russ.: perfektnoe značenie) ergibt sich immer bei Vorzeitigkeit Passiv und transformativer Sub-LAF:

okno (bylo) zakryto, das Fenster ist (war) geschlossen

Nichtresultative Wortformen ergeben sich bei den meisten anderen Wortformen (plakal, skazala, hat gesagt, hatte geweint). Zwischenstufen können sich bei vorzeitig gebrauchten, nichttransformativen  telischen Perfektiva ergeben: obeščal, prikazal.

Das Schicksal der Resultativität hängt eng mit temporalen Funktionen und Diathese zusammen und manifestiert sich in Veränderungen der Gestaltfunktion. Mit dem Zustandspassiv

okno (bylo) zakryto, ‚das Fenster ist (war) geschlossen‘

wird die Gestaltfunktion ‚Ereignis‘ verändert zu stativ. Damit ergibt sich der einzige Fall einer kontextbedingten Änderung der Ereignisgestalt pf. Verben.

[Umfassend zur Resultativität: Giger / Wiemer 2005.]

3.2.6. Terminativität

Bei Terminativität ist die Unterscheidung wichtig, ob es sich um eine Eigenschaft (a) der lexikalischen Bedeutung oder (b) syntaktischer Kontexte handelt. Lexikalisch terminative Verben sind durative (s. 3.2) Ereignislexeme, in aller Regel lexikalische Derivate von Verlaufs- und diffusen Verben (s. Lehmann 1984b) perejti, spisat’, ... Syntaktische Terminativität tritt bei Prädikaten von Ereignislexemen mit progressiver Funktion auf, vgl. sie ist dabei zu schließen, v to vremja kak ona zakryvala okno, ..., s.3.2.1.2.(b). Syntaktische Terminativität setzt nicht unbedingt lexikalische Terminativität voraus. Nichtterminative Lexeme (s. 3.5.) sind jedoch mehr oder weniger progressionsfeindlich, besonders die – in der Regel nichtterminativen – konklusiven Lexeme. Vgl. die progressive Verwendung von

– terminativen transformativen Lexemen: sie war dabei, über die Brücke zu gehen, v to vremja kak ona spisyvala sočinenie, ...

– nichtterminativen transformativen Lexemen:

sie war dabei zu schließen, v to vremja kak ona zakryvala ..., ...

– nichtterminativen konklusiven Lexemen:

?sie war dabei zu versprechen, ?v to vremja kak ona prikazyvala ..., ...

Grund für die Progressionsfreundlichkeit (die relativ häufige syntaktische Terminativität) der lexikalisch nichtterminativen Transformativa dürfte die Tatsache sein, dass die progressive Funktion stark mit Wahrnehmbarkeit korreliert und Transformativa einen wahrnehmbaren Zustandswechsel implizieren.

[Ausführlicher zur Terminativität: Lehmann 1992c, Łazinski  / Wiemer 1996a und b, zur Progressionsfreundlichkeit Lehmann 1998b.]

3.3. Alpha- und beta-Verben

Mit der Auflösung der LAF-Cluster durch grammatische Affigierung und Kontext ergibt sich eine Asymmetrie bei den Aspekt-Partnern. Die grammatische Veränderung der Gestaltfunktion bei Erhaltung der Telizitätsfunktion, meist durch grammatische Derivation, führt zu kognitiv und im  Gebrauch "schwächeren" Partnerverben, die wir als beta-Verben bezeichnen [s. Lehmann 1993b].

Der alpha-Status der Verben ergibt sich für fast alle Ereignis- und Verlaufslexeme aus folgenden Umständen: Die Bildung von Aspektpartnerschaften durch grammatische Derivation führt zu den Paradigmen der pf. und ipf. Verben (= der Perfektiva und Imperfektiva). Bei den – nicht von der Derivation betroffenen – Simplizia erhält sich die ursprüngliche Kombination aus Verbstamm und dem Resultat der kognitiven Verarbeitung der Wirklichkeit, anders gesagt, dem Resultat von Wahrnehmung und Inferenzen. Bei den Derivaten ergeben sich demgegenüber direkt oder in Verbindung mit dem Kontext Veränderungen der Gestaltfunktion. Diese gegenüber den ursprünglichen formal-funktionalen Kombinationen neuen Form-Funktionskombinationen sind nicht mehr durch die Verarbeitung der Wirklichkeit, sondern grammatisch bedingt. Sie generieren zusätzliche semantische, pragmatische und textlinguistische Formulierungsmöglichkeiten.

Die Umsetzung dieses komplexen Grammatikalisierungsprozesses in eine synchron anwendbare Definition geht daher für den alpha-Status vom Prinzip der Erhaltung der LAF-Funktionen bei den Simplizia aus und ergibt folgende Konstellationen:

 

 

lexikalisch. Stamm

alpha-Verb

beta-Verb

Beispiel

zakry-

zakryt’ (Simplex)

zakryvat’ (Derivat)

Aspekt

-

pf.

ipf.

Telizität

telisch

telisch

telisch

Gestalt

Ereignis

Ereignis

Ereignis

Die Verteilung des alpha-beta-Status bei den Ereignislexemen

 

 

lexikalisch. Stamm

alpha-Verb

beta-Verb

Beispiel

gulja-

guljat’ (Simplex)

poguljat’ (Derivat)

Aspekt

-

ipf.

pf.

Telizität

atelisch

atelisch

atelisch

Gestalt

Verlauf

Verlauf

Ereignis

Die Verteilung des alpha-beta-Status bei den Verlaufslexemen

 

Die Tabelle zeigt für die alpha-Verben eine Übereinstimmung der Funktionen des LAF-Clusters mit den unveränderten und unveränderlichen Funktionen des Simplex und für die beta-Verben Kombinationen mit Gestaltfunktionen, die grammatisch verändert oder grammatisch veränderbar sind: Bei poguljat’ ist ‚Verlauf‘ in ‚Ereignis‘ geändert, bei zakryvat’ kann ‚Ereignis‘ mit der progressiven Satzfunktion in ‚Verlauf’ geändert werden, vgl. v to vremja, kak zakryvala okno ‚während sie das Fenster schloss‘, wenn ‚Ereignis‘ nicht erhalten bleibt, vgl. večerom zakryvala okno (s. 3.2.1.2). Wir definieren daher wie folgt:

Alpha-Verben sind telische Perfektiva und atelische Imperfektiva, beta-Verben sind atelische Perfektiva und telische Imperfektiva. Die stativen und diffusen Verben werden entsprechend definiert. In den folgenden Tabellen sind die für den alpha- und beta-Status definitorischen Merkmale fett gedruckt:

 

 

lexikalisch. Stamm

alpha-Verb

Beispiel

znači-

značit’

Aspekt

-

ipf.

Telizität

atelisch

atelisch

Gestalt

stativ

stativ

Der alpha-Status der stativen Verben

 

 

lexikalisch. Stamm

alpha-beta-Verb

alpha-Verb

beta-Verb

Beispiel

čita-

čitat(Simplex)

pročitat(Derivat)

počitat (Derivat)

Aspekt

-

ipf.

pf.

pf.

Telizität

diffus

diffus

telisch

atelisch

Gestalt

diffus

diffus

Ereignis

Ereignis

Die Verteilung des alpha-beta-Status bei den diffusen Lexemen

Bei den diffusen Verblexemen haben die ipf. Partner alpha-beta-Status, (genauer: alpha- und/oder beta-Status), weil mit ihrer Telizität ‚telisch und/oder atelisch’ einmal der alpha-Status gegeben ist (ipf. + ‚atelischer Verlauf’) und einmal der beta-Status (ipf. + telisches Ereignis). Auch die zweiaspektigen Verben wie velet’ ’befehlen‘ oder  lokaliz(ir)ovat’ ’lokalisieren‘ sind alpha-beta-Verben, diese aber deshalb, weil sie ’telische Ereignisse‘ einmal als pf. und einmal als ipf. Verben denotieren.

In einer Reihe von Ausnahmefällen haben nicht Simplizia die alpha-Kombination ’telisch‘ + pf., sondern Derivate, und die ipf. beta-Partner sind Simplizia. Es sind dies vor allem konklusive Lexeme für Sprechakte wie poblagodarit’pfblagodarit’ipf. Grund dürfte die späte Herausbildung der Aspektpartnerschaft sein, der eine längere Zweiaspektigkeit vorausging, wie sie heute noch bei velet’ besteht.

Die alpha-Verben sind wie erwähnt gegenüber den beta-Verben in bevorzugter Position, schon deshalb, weil sie funktional und, von den Ausnahmen abgesehen, auch formal unmarkiert, d.h. generell einfacher sind. Außerdem

– sind sie häufiger in der Verwendung,

– werden sie früher erworben (Hochartz 1993; Gagarina 2008, 2009),

– sind sie kognitiv (bei Assoziationstests) privilegiert,

– werden sie weniger schnell vergessen (bei Sprachverlusten, s. Clasmeier 2008).

– werden eher aktualisiert (z.B. bei Übersetzungen).

[Die Stufung des Paradigmas der pf. und der ipf. Verben in alpha- und beta-Verben wurde zunächst in Lehmann 1993b beschrieben, damals noch ohne die Kategorie der diffusen Lexeme. In der Zusammenarbeit bei der Erstellung des „Wörterbuchs der Aspekte und Aktionalitäten des Russischen (WAAR)“ vor allem mit Eva Born-Rauchenecker, Julia Mende und Natalia Brüggemann ergab sich eine breite Anwendung und Weiterentwicklung des Konzepts. Kognitive Bestätigungen der alpha-beta-Stufung haben die empirischen Studien zur Aspektattrition von Clasmeier (2008) und zum Aspekterwerb von Hochartz (1993) und Gagarina (2008, 2009) ergeben.]

3.4. Episodizität und Häufigkeit und ihre Veränderung

Episodizität und Häufigkeit sind Default-Funktionen des pf. Aspekts die syntaktisch geändert werden können. Wenn kein spezifischer Kontext dagegen spricht, wird also die morphologische Default-Funktion des pf. Aspekts ‚einmaliges episodisches Ereignis’ übernommen (konkret-faktische Funktion; ‚einmalig’ als Default-Implikation der Funktion ‚episodisch’).

Durch Kontext kann verändert werden

– die Default-Funktionen ‚episodisch’ und ‚einmalig’ (byvalo, zakroet dver’ i uchodit), so genannte exemplarische Funktion des pf. Aspekts.

– nur die Default-Funktion ‚einmalig’ (zakryl dver’ tri raza), so genannte summarische Funktion des pf. Aspekts

Imperfektiva sind morphologisch hinsichtlich der Episodizität und Häufigkeit nicht spezifiziert und erhalten Funktionen der Episodizität und Häufigkeit erst im syntaktischen Kontext:

– Progressive Funktion: ‚episodisch und einmalig’ (Default)

– Iterative Funktion: ‚nichtepisodisch’ und ‚mehrmalig’.

– Allgemeinfaktische Funktion: ‚nichtepisodisch’ (die Häufigkeit bleibt unspezifiziert)

– Stative Funktion: ‚nichtepisodisch’ (die Häufigkeit bleibt unspezifiziert)

Diese Verteilungen von Episodizität und Häufigkeit ergeben sich auch, wenn den Satzfunktionen der Imperfektiva Veränderungen der Gestaltfunktion zugrunde liegen.

[Zur Veränderung der Episodizität s. Lehmann 1999a, 2005c.] 



[1] Die Einsicht, dass die Veränderung der Telizität ein umfassender (lexikalischer) Veränderungsprozess ist, verdanke ich der Diskussion mit G. v. Bock, Hamburg.